Umgang mit Suizid-Gefahr: Für Selbsttötungs-Gefährdete- Erfahrungsbericht eines Selbsttötungs-Versuchs - Erfahrungswerte im Umgang mit Suizid-Gefährdeten - Für Hinterbliebene
"Sieh auf die Lebenden, liebe sie, und halte durch!" (Douglas Dunn, Disentchantments)
Bedenke: Suizid ist eine dauerhafte "Lösung" für ein vorübergehendes Problem oder einen vorübergehenden Zustand.
Die schwere Depression verzerrt die Realität und die Gedanken, es gibt meist viel mehr Lösungsstrategien als man in der verengten Depressionssicht meint.
"Eine Depression geht vorbei!" - "Ich schaffe es!"
In der Frankfurter Rundschau ist ein lesenswerter Bericht über drei Menschen, die sich um ihr Leben bringen wollten. Es wird darin auch auf unsere Website hingewiesen.
Weiterleben nach Suizidversuch
Kein Hilfeschrei
Anna Riedel, Tanja Schulze und Alexander Caspary wollten sich umbringen. Sie wurden gerettet – und jetzt versuchen sie, irgendwie weiterzuleben.
Von Mareen Linnartz
Die Gefühle, die eine bipolar oder an Depression erkrankte Person veranlassen, an Suizid zu denken, sind durch die Depression verursacht.
Habe keine Angst, über diese Gefühle zu sprechen. Sie sind echt und sie sind kein Zeichen von Schwäche. Mit der richtigen Hilfe kannst du beginnen, dich besser zu fühlen. Eine Depression geht vorbei! Und damit auch die Suizid-Impulse!
Einige Dinge, die Du tun kannst, wenn du an Suizid denkst:
Sofortige Hilfe erhältst Du rund um die Uhr bei der Telefonseelsorge unter der bundeseinheitlichen kostenlosen Rufnummer 0800 - 111 0 111 oder 0800 - 111 0 222 und im Internet unter www.telefonseelsorge.de
Mehr kannst Du nicht tun. Es ist viel!
(Nach einer Veröffentlichung der "Depression and Bipolar Support Alliance (DBSA)", verändert und ergänzt. Vielen Dank, "cum grano salis", für die
Übersetzung)
Vor drei Jahren – ich hatte bereits zweieinhalb Jahre als Krankenschwester in der Psychiatrie gearbeitet – begann das Leid: Rückzug. Verlust der Sprache.
Und ich kündigte meine Arbeit trotz der Freude mit den Patientinnen und dem Team der Station 4.
Meine besondere Liebe galt damals Menschen mit bipolaren Störungen und Psychotikern. Depressive Patienten waren mir eher anstrengend.
Danach litt ich heimlich, etwas unbemerkt von meiner Umwelt. Die Depression nahm täglich zu. Freunde begleiteten mich rührend.
Nach einem halben Jahr der Schwere beschloss ich die mir geliebte Erde zu verlassen, nicht ohne an meine Eltern, Freunde, Kinder, meinen Mann zu denken. Doch ich war mir sicher, dass ich all den lieben Menschen mehr helfen kann aus einer höheren Warte der göttlich geistigen Welt. So nahm ich zwei Riegel meines Antidepressivums Cipramil, rauchte die letzte Zigarette, und legte mich ins Bett.
Wachte auf nach drei Tagen auf der Intensivstation des Nürtinger Krankenhauses. Fast wäre es nötig gewesen mich zu dialysieren. Doch die Werte wurden besser. Als ich erwachte standen zwei Herren vor mir: der Chefarzt und mein Mann.
Ich erwachte gerne ...
Man übergab mich der geschlossenen Station ... Zum Ende hin wurde es mir schlechter. Dabei spielte sicher der Anfang zu Hause eine Rolle ...
Susanne Diebold, Nürtingen (Name geändert)
Bei bipolar Erkrankten ist das Selbsttötungsrisiko generell um ein Vielfaches erhöht. Etwa jeder vierte Betroffene unternimmt einen Suizidversuch. Zirka 15 Prozent
der Erkrankten sterben daran.
Als besonders riskant werden Depressionen eingeschätzt, bei denen der Antrieb noch nicht gelähmt oder bereits wieder verbessert ist. In diesen Phasen wird die Selbsttötungsabsicht häufig in die Tat
umgesetzt. Auch gemischte Episoden bergen infolge der verzweifelten Stimmung aus Niedergeschlagenheit und enorm hohen Antriebsniveaus ein Suizidrisiko.
Einfühlsamer Kontakt
Zuhören, ernst nehmen, nicht werten
Achtsamkeit
Der Sog negativer Gedanken kann oft durch Anregungen, Begegnung und Imaginationen verändert werden
Von mir Einlösbares anbieten, worauf der andere sich verlassen kann
Aber nichts versprechen, was man nicht einhalten kann ("Ich bin immer für Dich da!" - "Ich sag's niemandem weiter")
Feste Termine vereinbaren, die Sicherheit vermitteln
Auf heftige Ausbrüche des anderen eingestellt sein
Dem anderen nicht meine Wahrheit aufdrängen wollen.
Dem anderen mit großer Offenheit möglichst aktiv zuhören
Nicht haarscharf "Drum-herum-reden", sondern klar und deutlich den Sachverhalt des Selbsttötungs-Versuchs, der Suizid-Gedanken oder Pläne ansprechen
Den anderen in seiner Verantwortung für sich selbst ernst nehmen
Die gefährdete Person auf fachliche Hilfsmöglichkeiten hinweisen (Krisenbegleiterinnen des AKL Nürtingen (Krisenberatung: Tel. 07022-19298), wenn dies nicht genügt: Aufnahme in der Psychiatrie bei suizidaler Krise jederzeit, auch nachts, ...):
Pforte, Patientenaufnahme Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Nürtingen: |
Tel. 07022 / 78-3761 |
Schwere, andauernde und konkrete Suizid-Impulse bei Depression oder Mischphasen sind immer eine lebensgefährliche Erkankung, die sofortiger Behandlung bedarf
Es hat sich bewährt, solcherart Gefährdete nicht allein zu lassen
Bei Bipolaren: Vorsicht mit bestimmten Antidepressiva, den so genannten "Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern" (SSRI) und Tri- und Tetrazyklischen Antidepressiva. Es gibt Hinweise darauf, dass diese - neben dem "Switch"-Risiko - bei zunächst verbleibender depressiver Symptomatik wie Selbsttötungs-Absichten/Plänen durch die Aktivitätssteigerung zum Umsetzen in die Tat führen können!
Als belastend wird von jemand, der einem Suizid-Gefährdeten zuhört, oft das Gefühl der Hilflosigkeit genannt. Hierzu Martin Klumpp:
"Ich beschrieb möglichst genau, welche Haltung ich einnehme und was ich im Einzelnen sage. Sie hörte genau zu und meinte dann: „Wenn man Dir zuhört, hat man den Eindruck, man muss halt dumm dasitzen können“. Ich antwortete: „Du hast es ziemlich gut verstanden“. Darin steckt die Schwierigkeit. Wenn ich einem Menschen in einer Krise helfen will, muss ich genau auf dieses „Ich habe schon die Lösung“ verzichten."
Hilfreich ist es, nicht umgehend mit Lösungsmöglichkeiten und/oder eigenen Erfahrungen zu reagieren. Martin Klumpp hierzu: "Wie können Sie einem
Menschen helfen oder Heilung fördern, auch wenn Sie äußerlich gar nichts verändern können? Antwort: durch ein helfendes Gespräch.
Wozu helfen Sie? Dazu, dass Ihr Gesprächspartner seine eigenen Gefühle zulassen, sie beschreiben, sie gewissermaßen aus sich heraussetzen kann. Die Gefühle sind dann nicht mehr – wie
in einem Gefängnis- im Menschen unsichtbar eingeschlossen. Er kann sie betrachten, in sich ordnen und sich entwickeln lassen.
Wie wird solches im Gespräch möglich? Zuerst prüfen Sie bei sich selber, ob es bei Ihnen Ablehnungen, Störungen oder Befürchtungen gibt. Es ist keine Schande, wenn es das gibt. Dann sind Sie
vielleicht nicht ganz offen, alles wahrzunehmen, was vom anderen zu Ihnen kommen kann. Es ist gut, wenn man darum weiß. In jedem Fall versuchen Sie nicht, in Ratschläge oder in eigenes
Geschichtenerzählen zu flüchten, sondern sich ganz zu konzentrieren auf das Wahrnehmen aller Gefühle, die der andere andeutet, zeigt oder beschreibt. Versuchen Sie auch in
Sprachbildern, in denen der andere sich ausdrückt, seine Gefühle wahrzunehmen. Dann versuchen Sie durch einfühlsames Sprechen wiederzugeben, was an Gefühlen bei Ihnen angekommen ist. Es geht nicht um
Ihr Urteil, sondern darum, dass dieser Mensch ausdrücken kann, was ihn bewegt.
Wenn Sie diese Kunst erlernen und üben, werden Sie verblüfft sein, weil Sie gewissermaßen ein Wunder erleben, das nicht Sie machen, an dem Sie aber beteiligt sind. Ihr von einer Krise betroffene
Gesprächspartner fängt nämlich von sich aus an, die eigenen Gefühle zu präzisieren, sie in ihrer Fülle zu betrachten, innere Widersprüche wahrzunehmen, sie abzuwägen und zu ordnen. Er wird unter den
vielerlei Gefühlen das eine oder andere finden, das besonders ins Gewicht fällt. Wo vorher Gefühlschaos und Überschwemmung war, entsteht jetzt Übersicht. Sie nehmen erstaunt wahr,
wie eine erstarrte oder überflutete Seele lebendig wird und anfängt, sich in emotionalen Prozessen zu verändern ... Wer mit Suizid innerlich umgeht, braucht Menschen, vor denen er sagen kann,
was ihn bewegt."
"Wer von Selbsttötung spricht, tötet sich nicht."
Falsch! Wenn jemand von Selbsttötung spricht, dann ist das häufig ein besonders ernstzunehmender Hinweis. Die eigentliche Gefährdung desjenigen, der über Suizid spricht, bleibt weiter vorhanden. Auch wenn man Selbsttötung Gefährdeten gegenüber ausdrücklich anspricht, ist dies kein Fehler.
Falsch ist es, zu sagen: "Na, dann mach's doch, Du traust Dich eh nicht!". Das ist kein hemdsärmliges Rezept zur Verhinderung einer Selbst-Tötung.
"Wer einen Suizidversuch hinter sich hat, will pirinzipiell nicht mehr leben"
Falsch! Die meisten Geretten sind hinterher froh, dass sie wieder da sind (siehe hierzu auch den Erfahrungsbericht von Susanne Diebold weiter oben). Viele lassen es offen, ob sie durch einen Versuch umkommen oder nicht.
Wer sich das Leben nehmen will, will meist nicht mehr so weiterleben wie gehabt. Und das ist meist richtig so.
Die Selbsttötung ist allerdings nur eine Möglichkeit von vielen. Die anderen Alternativen sieht man in depressiver Verengung meist nicht, man ist vollends gefangen durch Suizid-Impule, durch quälendes Leid. Da kann es hilfreich sein, wenn Alternativen für ein anderes Weiterleben aufgezeigt werden und in dieser Richtung Hilfestellungen erfahren werden.
"Etwas besseres als den Tod findest Du allemal!"
"Wer einmal einen Suizidversuch unternimmt, versucht es immer wieder."
Da ist was dran. Stimmt aber in dieser Ausschließlichkeit nicht.
Das Risiko einen Suizidversuch zu wiederholen ist hoch. Die ersten 3 Monate nach einer vermeintlichen "Besserung" sind besonders risikoreich.
Entscheidend ist, ob die betroffenen Menschen nach dem Suizidversuch im Umgang mit ihrer Krise positive Erfahrungen machen können. Mit entscheidend ist, die vorhandenen Schwierigkeiten nachhaltig aufzuarbeiten. Sehr viele - allerdings nicht alle - finden nach einem Suizidversuch durchaus zu einem sinnerfüllten Leben. Sie haben erkannt, dass sie so nicht weiter leben wollten. Aber es gibt auch andere - bessere - Möglichkeiten, dies zu ändern als sich sein Leben zu nehmen. Wenn die Depression vorbei ist, dann ist auch die verzerrte, eingeschränkte Sicht darauf - und die Suizid-Impulse - wieder vorbei. Viele begehen dann keinen Suizidversuch mehr. Und schützen sich in der nächsten Depression rechtzeitig - die man niemandem wünscht. Oder versuchen, über Prophylaxe einen weiteren depressiven Schub zu verhindern.
Tipp: Vor der Entlassung aus der Intensivstation oder Psychiatrie nach einem Suizidversuch und allgemein bei Suizid-Gefährdeten sollte darauf geachtet werden:
... dass Schusswaffen und tödliche Medkamente sicher gestellt oder entfernt werden
... eine Person, die Unterstützung leistet, zur Verfügung steht
... ein zeitnaher Folgetermin mit einem Spezialisten für psychische Krankheiten vereibart worden ist,
... der Patient Name und Telefonnummer eines Facharztes, Krisenbegleiters und des AKL hat, wo im Notfall angerufen werden kann, am besten einen Notfallplan ausarbeiten
Bei akuter Suizidalität:
Betroffene/n möglichst nicht allein lassen!
"Der Tod trifft zwei, den Sterbenden und den Lebenden, und der Lebende trägt die Last ..." (Arnold Toynbee)
Lokale und regionale Angebote:
Bei der Diakonischen Bezirksstelle in Nürtingen gibt es eine "Offene Gruppe für Trauernde".
Sie trifft sich jeweils am ersten Dienstag im Monat von 17 Uhr bis 18.30 Uhr in den Räumen der Diakonischen Bezirksstelle, beim Diakonieladen im ehemaligen WLZ/Raiffeisengebäude in der Plochinger Straße (siehe hierzu die Kartenskizze in der Sparte "Lokale Hilfsangebote".
Für Menschen, die ihren Lebensgefährten, ein Kind, die Eltern, einen Angehörigen oder einen nahe stehenden Freund verloren haben. Leitung: Renate Matrohs.
Offen – überkonfessionell – kostenlos
Diakonische Bezirksstelle, Plochinger Straße 61, 72622 Nürtingen, 1. Obergeschoss. Telefon: 07022 – 932 77 5
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Gesprächskreis für Angehörige nach Suizid
Mit anderen betroffenen Menschen ins Gespräch kommen - nicht im Schweigen erstarren. Trauer und Schmerz, Klagen und Anklagen mit anderen teilen. Immer wieder reden, zuhören und hinhören ...
Das Evangelische Bildungswerk bietet im Landkreis Esslingen einen Gesprächskreis speziell für Menschen an, die einen Angehörigen oder engen Freund durch
Suizid verloren haben. Weitere Informationen beim Evangelischen Bildungswerk unter Telefon (0 70 22) 90 57 60 oder im Internet unter www.ev-bildungswerk-esslingen.de.
Siehe hierzu auch die Sparten "Lokale Hilfsangebote" und "Angehörige". Dort sind oft genauere Kontaktangaben und weitere Informationen zu finden.
Buchtipp:
Kay Redfield Jamison: Wenn es dunkel wird. Zum Verständnis des Selbstmordes, München 2000, ISBN 3886807061
Mehr über Suizidalität erfahren Sie in der Beschreibung der DGBS (Deutsche Gesellschaft für bipolare Störungen), hier klicken
und in der Website der "Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention", hier klicken.